Im Februar haben wir Gaël Hurlimann, einen der beiden Chefredakteure von Le Temps, getroffen. Das Treffen fand an einem besonderen Tag statt – am 25. Februar. Dem Dienstag, als der erste Coronavirus-Fall in der Schweiz bestĂ€tigt wurde. Zwischen zwei Briefings, zur Umstrukturierung der Ausgabe vom nĂ€chsten Tag, erzĂ€hlt er uns von der Vision von Le Temps. Inmitten einer turbulenten Medienlandschaft redeten wir davon, wie Innovation bei der Zeitung und im Projekt Le Temps Afrique angegangen wird.

GaĂ«l Hurlimann betreut auch die Digital Factory von Le Temps – das Team, welches verschiedenen digitale Berufe vereint. «Ich muss zwischen zwei Denkweisen hin und her jonglieren und dabei verheddere ich mich manchmal», vertraut er uns an. «Einerseits passe ich mich den Menschen an, die die digitale Arbeitsweise gewohnt sind, und andererseits denke ich ganz klassisch journalistisch.»

Der Journalismus und die Medienindustrie als Ganzes sind im Umbruch. Wie sieht dein Ansatz bei Le Temps aus?

Wir streben eine einfache und gleichzeitig radikale VerĂ€nderung an. Zum einen wollen wir die Marke Le Temps stĂ€rken. Ihre Definition muss klar und verstĂ€ndlich sein. Das Markenversprechen muss offensichtlich sein. Wir definieren uns nicht mehr darĂŒber, eine hochwertige Zeitung zu sein. Wir sehen uns vielmehr als ein Medium mit Tiefgang. Nicht der Medienkanal zĂ€hlt, sondern die Art und Weise, wie Le Temps die Welt darstellt – das, was uns in redaktioneller Hinsicht ausmacht.

Das bringt mich zum zweiten Teil unseres Ansatzes. Wir wollen vermehrt neue ErzĂ€hlformen erschliessen. Dazu steht uns eine breite Palette an Tools zur VerfĂŒgung. WĂ€hrend Print-Journalist*innen Geschichten in Form von Interviews, Reportagen, Kommentaren oder Analysen erzĂ€hlen, können «agnostische» Journalist*innen Geschichten in Form von Videos, Events, Print- oder interaktiven Infografiken etc. ĂŒbermitteln. Die Formate sind also viel abwechslungsreicher. Die Wahl des Medienkanals wird dadurch bestimmt, was man erzĂ€hlen will.

Ihr werdet also gewissermassen agiler?

Wir arbeiten immer mehr im Projektmodus. Zum Beispiel ĂŒberlegen sich unsere Journalist*innen, die wir «Chefs de cause» nennen, wie wir die Welt beeinflussen könnten. Sie suchen im Anschluss das beste Mittel zur Umsetzung, auch wenn dieses sehr weit vom klassischen Mittel entfernt ist – im Fall von Le Temps dem Schreiben. Und die Digital Factory hilft, den technischen Aufwand solcher Projekte zu verringern.

Unser Innovationskonzept beinhaltet auch das Arbeiten im Labormodus. Dies kommt einer agilen Methodik nahe, bei der man Iterationen durchfĂŒhrt und Ideen sehr schnell in der RealitĂ€t testet.

Jede*r Journalist*in kann eine neue Idee einbringen und hat Anrecht auf mehrere Iterationen, ohne sich dabei zu sehr auf den Erfolg fokussieren zu mĂŒssen. WĂ€hrend ihrer Tests können die Journalist*innen auf Entwickler*innen, Cutter*innen, Grafiker*innen und andere Personen zurĂŒckgreifen, die sie bei der Umsetzung unterstĂŒtzen. Bei unserem Podcast «Brise-Glace» haben wir beispielsweise fĂŒnf Folgen produziert und festgestellt, dass das Format enormes Potenzial hat. Im Anschluss haben wir die KPIs, die Finanzierungsart und den Workflow definiert. Den Prototyp-Modus mussten wir erst verlassen, als es an die Vermarktung des Projekts ging.

Ohne diesen Laboransatz hĂ€tten wir versucht, den ganzen Workflow und den Vermarktungsprozess wĂ€hrend der ersten Folge aufzubauen. Wir hĂ€tten immens viel Zeit fĂŒr die Spezifikationaufgewendet und wahrscheinlich falsch damit gelegen.

AllmĂ€hlich kommen wir von der Auffassung «Ich fĂŒlle vordefinierte mediale RĂ€ume in einer bestimmten Sparte» zu einem Format im Stil «Ich setze Projekte um».

Heute wÀre es sinnvoll, ein Ad-hoc-Team zu bilden, um Themen wie das Coronavirus zu behandeln. Noch sind wir dazu nicht ausreichend in der Lage. Letztendlich haben wir aber zum Ziel, flexibel genug zu sein, um unsere Organisation systematisch an die jeweilige Berichterstattung der Tagesthemen anzupassen.

Wie definierst du Innovation?

Innovation bedeutet, keine Angst davor zu haben, neue Dinge auszuprobieren. Es bedeutet auch, gegenĂŒber unserem Publikum eine grosse Transparenz an den Tag zu legen, es um Feedback zu bitten und ein offenes Ohr dafĂŒr zu haben. Wenn wir Dinge testen, wagen wir uns, das zu sagen; wir wagen uns zu sagen, dass es nicht perfekt ist.

Le Temps steht auch fĂŒr die Förderung technologischer Innovation. Wenn wir ein neues Web-Tool entwickeln, stellen wir es auf GitHub, wenn möglich unter einer freien Lizenz. Umso besser, wenn der Code auch noch von anderen genutzt wird. FĂŒr uns ist das grossartige Werbung, ermöglicht uns aber vielleicht vor allem, das Tool gemeinsam mit anderen zu optimieren.

Vor einigen Monaten haben wir mit der agilen Begleitung des Projekts Le Temps Afrique begonnen. Wie ist es gelaufen?

Wir haben zuerst die Positionierung von Le Temps und ihre Wertschöpfung hinterfragt. Dann haben wir den Umfang des Projekts so abgesteckt, dass unsere Zielsetzungen glasklar waren. Bei der Zusammenstellung des Teams haben wir uns dafĂŒr entschieden, einen Journalisten ins Zentrum der Arbeitsgruppe zu setzen, die in einem rein agilen Modus arbeitete. Das war eine Premiere.

Die Begleitung durch Liip, insbesondere bezĂŒglich agiler Methodik, hat super gut funktioniert. Alle Zweifel und Vorbehalte – besonders im Hinblick auf spezifisches Vokabular und Arbeitsweisen – wurden ausgerĂ€umt. Das war möglich, weil Liip die richtigen Worte und den richtigen Weg fand, diese Praktiken einzufĂŒhren und sich dabei ans Umfeld von Le Temps anzupassen.

Liip hat bei der EinfĂŒhrung gewisser Holacracy-Elemente und der agilen Methode Scrum grosses FingerspitzengefĂŒhl gezeigt. Ihr seid nicht mit einer vorgefertigten Toolbox bei uns aufgetaucht, sondern habt die richtigen Lösungen in dem Kontext entwickelt, in dem sie auch angewendet werden sollten.

Welche Ergebnisse zeigen sich jetzt, einige Monate spÀter?

Das Projekt Le Temps Afrique hat gerade erst begonnen. Wir sind aber vor allem mit der Methodik und der Arbeitsweise des Teams zufrieden. Wir sehen, dass es funktioniert, wenn wir Journalist*innen aus verschiedenen Sparten in einem Projekt zusammenbringen.

Deshalb möchten wir diesen Ansatz auch auf andere Projekte anwenden. So könnte beispielsweise die Lancierung jedes neuen Podcasts von einem Coaching Ă€hnlich dem, das ihr fĂŒr Le Temps Afrique durchgefĂŒhrt habt, begleitet werden. FrĂŒher oder spĂ€ter könnten wir so immer mit kleinen, agilen und selbstorganisierten Teams arbeiten – und mit einem Netzwerk von Journalist*innen, die zur Behandlung der jeweiligen Thematik zusammenkommen. Wenn wir so weitermachen, werden wir wahrscheinlich eines der ersten Medienunternehmen sein, die dieses Abenteuer wagen.

Und wir sind bereit dazu, weil wir bestens begleitet werden. Weil Liip alles so intelligent eingefĂŒhrt hat, war es möglich, dass sich die Journalist*innen auf einen FĂŒhrungsstil einlassen, der auf mehr AgilitĂ€t und Selbstverantwortung beruht. Ich bin froh, dass wir eine Redaktion haben, die bereit ist, neue Dinge auszuprobieren!

Wie wĂŒrdest du die Zusammenarbeit mit Liip in drei Emojis ausdrĂŒcken?

👂 Ich hatte eine grosse BefĂŒrchtung: Dass sich die professionelle Begleitung in diesem Prozess auf eine starre, vorgefertigte Toolbox beschrĂ€nkt. Aber Liip ist es gelungen, die Tools und das Vokabular an uns anzupassen. Die FĂ€higkeit zuzuhören und die Passgenauigkeit der Lösungen waren entscheidend.
♟ Wiederholung und Ausdauer. Ohne Liip hĂ€tten wir das alles nicht geschafft. Ihr habt uns eine kontinuierliche Begleitung geboten. Auf diese Weise konnten wir nach und nach die neuen Arbeits- und Selbstverwaltungsmethoden integrieren.
🧰🔧 🔹 Liip hat uns beigebracht, entspannt mit VerĂ€nderungen umzugehen. Ziel ist es, dass die Journalist*innen fĂŒr den Umgang mit diesem Ă€usserst dynamischen Umfeld gerĂŒstet sind.